Kreatives Coding in Bonn

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Decker: Ein Kreativwerkzeug für alle

Warum lernen wir Lesen und Schreiben in der Grundschule? Klar, um später im Berufsleben Kaufverträge lesen und unterschreiben und unsere Steuererklärung machen zu können. Aber das sind natürlich nicht die einzigen Gründe. Lesen und Schreiben sind Kulturtechniken. Wir können Gedichte lesen, selber Geschichten schreiben, wir können Zutatenmengen für Pizza berechnen, so dass alle Partygäste satt werden.

Programmieren ist anders. Im Jahr 2022 kann nur noch eine kleine Elite der Computernutzer programmieren. Der Rest kommt höchstens mit Formeln in Excel in Berührung. Selbst Menschen, die täglich mit dem Computer arbeiten, automatisieren wenig und überlassen kompliziertere Dinge wie Code schreiben gerne den Technikern. Man will sich eigentlich sowieso lieber mit analogen DIngen beschäftigen.

Das war mal anders. In den 1980ern und frühen 1990ern, als es noch kein lukratives Geschäft war, Computerbesitzer zu bloßen Nutzenden zu degradieren und durch Standardsoftware genau vorzugeben, was denkbar ist und was eben nicht, waren Computer durch ihre Nutzenden programmierbar. Manche Homecomputer starteten direkt mit einem leeren Bildschirm und der blinkenden Aufforderung, ein BASIC-Programm einzugeben:

10 PRINT "Hallo Welt" : GOTO 10

Klassische Apple-Computer hatten das Programm Hypercard von Bill Atkinson, einem der Erfinder des Macs, vorinstalliert. Mit diesem ließen sich einfache, interaktive Anwendungen schreiben und zum Leben erwecken. Viele Spiele aber auch seriöse Anwendungen sind so entstanden. Im Internet-Archiv lassen sich viele dieser Anwendungen noch heute ausprobieren.

Der Softwareentwickler John Earnest hat eine Neuauflage von Hypercard namens Decker für Computer unter macOS und Windows programmiert. Auf itch.io kann man sie gegen "Name your own price" herunterladen. Es gibt auch eine Version für den Browser.

Programme in Decker, sogenannte Decks, bestehen aus Karten, auf denen man herummalen kann:

Karten können über Knöpfe und andere Dinge interaktiv gemacht werden. Daraus lassen sich ganze Anwendungen zusammenstellen. Oder Graphic Novels. Oder Rezeptsammlungen. Oder digitale Gärten. Decker enthält eine Scriptsprache namens Lil. Lil ist einfach zu lernen, aber sehr ausdrucksstark. Decker kennt tabellelarische Daten, kann CSV-Daten laden und über eine Abfragesprache manipulieren. Es könnte also durchaus ein Excel-Killer werden.

Decker ist umfassend dokumentiert und Open Source, das heisst, sein Quellcode ist frei verfügbar.

Vielleicht schaffen es Decker und ähnliche Werkzeuge, ein neues Zeitalter des kreativen Codens einzuläuten und die geistlosen Monster von M. auf ihren Platz in der Geschichte zu verweisen. Ich würde es mir wünschen!

Gestartet von Dr. Olav Schettler in Kreatives Coding in Bonn 30. Oktober 2022 09:32

Eine Woche nach dem Schreiben dieses Artikels gibt es einige weitere Berichte über Decker:

John Gruber, der Erfinder des Markdown-Formates schreibt darüber auf seinem Blog Daring Fireball:

Das Ganze ist so schön und lustig und nützlich und so einnehmend, dass ich letzte Nacht buchstäblich davon geträumt habe, es zu benutzen. Ich weiß noch nicht, was ich mit Decker machen werde, aber ich will verdammt sein, wenn ich nicht irgend etwas damit mache. Es ist so inspirierend.

Auch das ifun-Magazin hat einen Artikel geschrieben. Sie fanden besonders erwähnenswert, dass Decker auf aktuellen Macs läuft.

Und noch ein bemerkenswerter "Zufall". Das Informartiklehrbuch The Analytical Engine (Affiliate-Link zu Amazon) von 1990 wurde von Rick Decker geschrieben.

Dr. Olav Schettler 4. November 2022 14:42
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