Kreatives Coding in Bonn

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Virtuelle (Lehr-)Räume gestalten

Seit zwei Wochen arbeiten viele Leute von Zuhause und auch die Kids müssen sich an das neue Home Schuling gewöhnen.

Es ist ja nicht so, als wenn die Welt erst vor zwei Wochen angefangen hätte, remote Arbeit oder virtuelle Lernwelten zu gestalten. Leider ist allerdings zu diesen Themen in Deutschland fast nichts passiert. Das hat sicher verschiedenste Ursachen:

  • Im Umfeld von Arbeit gab es auch in Deutschland in den letzten fünf Jahren einen starken Trend hin zu agilen Methoden. Vor allem angefeuert durch Schwärme von Beratern wurden Methoden wie Scrum und Kanban in die Unternehmen getragen. Oft war dabei allerdings die Anwendung agiler Methoden untrennbar mit einer fast religiösen Präsenzkultur verknüpft. Teamräume in Open Space Architektur boomten, Kanban-Boards wurden mit Post-Its an Wänden gepflegt und Entwickler wurde eingeredet, dass nur das haptische Verschieben eines Aufgabenzettels an einer Wand wahre Befriedigung bringe. Anderwo wurde derweil Remote-Arbeit gefeiert. Spätestens seit dem Buch REMOTE - Office not required von Jason Fried und David Heinemeier Hansson aus 2013 weiß man eigentlich, warum Remote-Arbeit eine gute Idee ist.
  • Weil remote arbeitende Kollegen immer Diskussionspartner zweiter Klasse waren, hatte keiner wirklich Lust, remote an Meetings teilzunehmen. Erst, wenn alle Kommunikationspartner die selben Bedingungen erleben, können sie gleichberechtigt an Veranstaltungen teilnehmen.
  • Ansätze wie OKRs sind immer noch nicht im deutschen Arbeitsleben verbreitet. Daher wird zielorientiertes Arbeiten auf allen Hierarchieebenen vielerorts nach wie vor durch Angst vor Eigenverantwortung und Zeit absitzen ersetzt.
  • Kreative Prozesse in virtuellen Räumen sind besonders schwierig, das will ich gar nicht bestreiten. Werkzeuge gibt es aber schon ewig. Non-Government-Organisationen organisieren sich schon lange z.B. über https://pad.riseup.net/ . Ich habe schon 2012 in einer weltweiten Organisation gearbeitet, die sich komplett über Google Docs organisiert hat. Google Docs funktioniert genial mit vielen Bearbeitern gleichzeitig. Leider ist der Datenschutz mit Google nicht unproblematisch. Aber auch offene Lösungen wie NextCloud haben inzwischen die virtuelle Zusammenarbeit entdeckt und bieten kollaborative Editoren. Speziell für kreative Prozesse gibt es inzwischen auch Werkzeuge wie Mural oder Miro oder, etwas weniger leistungsfähig aber immer noch gut nutzbare, freie Lösungen wie Linoit, einer virtuellen Korkwand.
  • im Umfeld von Bildung gibt es auch seit einigen Jahren Ansätze für Massive Open Online Courses (MOOCs), z.B. von edX. Ich habe 2015 an einem solchen, dreimonatigen Kurs von edX teilgenommen - großartig! Ein opensource System zur Ausrichtung gibt es mit Moodle schon lange. Der technische Leiter der Düsseldorfer Codingschule, Tobias Hübner, empfahl Moodle mit seiner OER-Cloud schon zu Zeiten von Präsenzkursen. Leider fehlt in unseren Schulen bisher die Erfahrung mit solchen Systemen komplett.
  • Dieses Kompetenzvakuum wird nun leider von Konzernen wie Microsoft genutzt, um ihre Systeme wie Onedrive oder Teams in Schulen zu platzieren.

Mir ist aufgefallen, dass es bereits seit Anfang der 90er Jahre viel Forschung und Ansätze gibt, wie man virtuelle Räume gestaltet, um dort zusammen zu spielen, zu lernen und kreativ zu sein. Vieles davon ist im Wahn der letzten Jahre um immer realistische 3D-Spiele verloren gegangen, aber einiges gibt es noch oder kann wieder aufgegriffen werden.

Ende der 80er, Anfang der 90er gab es weltweit bereits eine reiche Tradition virtueller Communities, die leider vom kulturellen Mainstream in Deutschland, vielleicht aus Technikphobie, weitestgehend ignoriert wurde. Howard Rheingold beschrieb diese Kulturszene in seinem Buch The Virtual Community von 1993.

Aufbauend auf virtuellen, textbasierten Welten in Systemen mit Namen wie MUD oder MOO entwickelte Amy Bruckman am Media Lab des MIT mitte der 90er Jahre das System MOOSE crossing speziell für die Bildung. Ihre Dissertation von 1997, betreut von Mitchel Resnick, dem Erfinder von Scratch, ist online und beschreibt das System und die damit gewonnenen Erkenntnisse im Detail. Das System wurde leider nach 10 Jahren Betrieb mitte der 2000er vom Netz genommen. Ich habe sie letzte Woche angeschrieben und gefragt, ob das System noch in irgend einer Form verfügbar sei. Ihre Antwort: Leider nein.

Das MOOSE crossing basierte auf konstruktionistischen Konzepten von Seymour Papert und erlaubte bereits 7- bis 13-Järigen das Erleben und Programmieren virtueller Welten.

Frau Bruckman zeichnet am Anfang ihrer Arbeit eine Hierarchie von virtuellen Lernumgebungen:


  1. Verteiltes Lernen als Versuch, das traditionelle Klassenzimmer einszueins durch Technologie online zu bringen
  2. Online-Recherche. Das ist der Level,  auf dem typischerweise das Internet in unseren Schulen zum Einsatz kommt
  3. Online-Communities zum Wissensaufbau. Im professionellen Umfeld gibt es hierfür viele Beispiele. Diigo ist eine kommerzielle Lösung für gemeinsamen Wissensaufbau. Mein eigenes Knowfox ist eine freie und opensource Alternative
  4. Technologische Sambaschule. Das ist die Krönung der Ansätze, den Amy Bruckman versuchte, mit MOOSE Crossing zu realisieren.

Seymour Papert entwickelte seinen Konstruktionismus seit den 60er Jahren und berichtete darüber in seinem Buch Mindstorms (Untertitel: Children, Computers, and Powerful Ideas). Hier beschreibt er die Idee der Sambaschulen in Brasilien. Wer mehr über Seymour Papert und seine bahnbrechenden Arbeiten erfahren möchte, dem sei diese Konferenz "Thinking about thinking about Papert" von 2017 am MIT Media Lab ans Herz gelegt.

Amy Bruckman überträgt diese Idee in die Online-Welt.

Die spannende Frage ist: Wie beleben wir Ideen und Systeme von vor zwanzig Jahren schnell wieder, jetzt, wo wir sie so dringend für unser tägliches Leben brauchen würden?

Natürlich sind MUDs lebendig wie eh und je. Auf Grapevine kann man ein paar ausprobieren. Das sind aber allesamt Spiele, keine Bildungsumgebungen.

Die Entwickler-Community MUDcoders hat einen Slack-Channel pflegt ihre eigene opensource Software. Dort habe ich Evenia wiederentdeckt. Das scheint eine mächtige Software zu sein, um ein modernes MUD aufzusetzen. Es basiert auf Django. Eigene Module werden in Python entwickelt.

Ich bin nicht sicher, ob das der richtige Weg zu einer technologischen Sambaschule ist. Mal sehen, wie sollte meine Ideale Basis aussehen:

  • Web-basierend und multikanal, also auch auf Mobilgeräten, Tablets und Sprachassistenten nutzbar
  • Entdeckbar, also ohne lange Lernphasen oder einen Spickzettel vor Augen nutzbar
  • Low floors, high ceilings and wide walls. Damit Technologie effektiv sein kann, soll sie für Anfänger einfach sein (low floors). Aber sie soll es auch ermöglichen, mit der Zeit immer anspruchsvollere Projekte anzugehen (high walls). Zusätzlich soll sie verschiedenste Ansätze und Lerntypen berücksichtigen (wide walls).
Noch habe ich keine geeignete Plattform gefunden.
Gestartet von Dr. Olav Schettler in Kreatives Coding in Bonn 28. März 2020 13:27